Der Riese und
der Doppelkirchturm von Hohenhameln
Der
Wanderer, der Hohenhameln in der Richtung nach Hildesheim verläßt, ist über
den herrlichen Blick, der sich ihm nach Süden hin plötzlich eröffnet, überrascht. Er überschaut
vom „Hohen Wege“ aus eine so liebliche Landschaft, wie sie sich dem Auge nur
selten bietet. Die Überraschung ist um so größer, weil er sie im Kreise Peine,
der angeblich landschaftlich reizlos sein soll, gar nicht vermutet hat. Um so
schöner ist auch der Genuß des einzigartigen Bildes. Zu einer malerischen
Landschaft vereinigen sich die in das Grün ihrer Obstbäume gebetteten Dörfer
mit ihren schlanken Kirchtürmen, die bislang der Axt entgangenen Baumgruppen
des Bruchgrabens, die grünenden Fluren und die dunklen Wälder. Die
Hildesheimer Berge geben der farbigen Aue im Hintergrunde einen würdigen
Abschluß. Wenn der Kreis Peine nur dieses eine wahrhaft hervorragende
Landschaftsbild besäße, dann müßte man ihn allein des einen Kleinodes wegen
preisen!
Dort, in nicht großer Ferne,
erblickt man den hohen und doch so zierlichen Kirchturm von Borsum, dessen außergewöhnliche
Form den Blick auf sich lenkt. Auf dieses köstliche Meisterwerk der Baukunst
sind die Bewohner des Borsumer Kaspels von jeher stolz gewesen, und das mit
Recht!
Voller Würde reckt sich auch
der Doppelturm der Hohenhamelner Kirche empor und nimmt mit Selbstbewußtsein
seinen Platz in der Landschaft ein. Weit hinüber bis nach Hildesheim grüßen
die Spitzen der Türme, und der Beschauer weiß nicht, welchem Bauwerk er das höhere
Lob zuerkennen soll.
Beide Kirchen würden auch
einer jeden Stadt zur Zierde gereichen. Der Wohlstand der fruchtbaren Gegend
konnte es sich leisten, solch vorbildliche Anlagen zu schaffen.
Und doch hat es einmal eine
Zeit gegeben, da die Leute ihres Besitzes nicht so froh waren, weil die eine
Ortschaft der anderen ihren Schatz nicht gönnte. So kam es, daß die Borsumer
einst den Entschluß faßten, bei passender Gelegenheit den Doppelturm zu
beseitigen. Da traf es sich gut, daß ein Riese bei Borsum vorüber wanderte.
Ein mutiger Borsumer schritt auf ihn zu und sagte voller List:
„Wir haben schon oft von der
großen Stärke der Riesen gehört. Bei unserm Dorfe liegt ein großer Findling,
den viele Pferde nicht fort- schleppen können. Viele von unseren Leuten glauben
nicht, daß ein Riese ihn aufheben kann. Möchtest Du ihnen nicht das Gegenteil
beweisen?“ Das ließ der Riese sich nicht zweimal sagen. Er war froh, eine
Probe seiner Kraft ablegen zu können. Sofort ließ er sich den Stein zeigen und
fragte, wo er ihn hinwerfen solle. Da wies der Borsumer voller Freude, daß sein
Plan so schnell gelingen sollte, nach dem Doppelturm der Kirche zu Hohenhameln.
Mit einem kurzen Ruck hob der Riese den schweren Brocken auf und schleuderte ihn
mit ungeheurer Wucht nach dem angegebenen Ziele. Wahrlich gut gezielt!
Haarscharf sauste der Stein zwischen den Türmen hindurch und fiel mit
donnerndem Getöse auf der anderen Seite zur Erde nieder. Die Spitze des einen
Turmes wurde leicht gestreift und ist bis auf den heutigen Tag etwas niedriger
als die andere. Der listige Anschlag war dadurch glücklicherweise gescheitert,
und die Kirchtürme erheben stolz ihre mit dem Kreuz geschmückten Spitzen.
Viele Jahre hat der
Riesenstein an der Stelle, wo er niedergefallen war, gelegen. Wer ihn dort
zuletzt fortgeschafft hat, weiß keiner zu sagen.
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